Gemeinsam gegen Orbán: Ungarns neue Opposition

von Helga Trüpel und Robert Hodonyi

Um Ungarn ist es in den vergangenen Monaten erstaunlich ruhig geworden. Dabei hatte die Europäische Union die dortige Regierung noch vor einem Jahr scharf für ihre neuen Mediengesetze gerügt und Korrekturen angemahnt. Zugleich kritisierte sie die Unterhöhlung der Unabhängigkeit von Justiz, Notenbank und Datenschutzbehörde.[1]

Doch inzwischen hat der Druck auf Budapest erheblich nachgelassen. Die politische Halbherzigkeit der EU aber ist ein fatales Signal: Denn die Regierung Orbán hat bislang nur einen Teil der beanstandeten Gesetzesänderungen zurückgenommen. Stattdessen verunglimpfte der Ministerpräsident die Kritik der EU als eine „Kampagne der internationalen Linken“. Brüssel sei, so Orbán, das neue „Moskau“.[2] Für 2013 hat Orban gar das „Jahr der Ernte“ ausgerufen: Um die Früchte der eigenen Politik einzufahren, werde seine Regierung den Weg der „unorthodoxen“ Maßnahmen fortsetzen und auch weitere Konflikte mit der EU nicht scheuen.[3]

Unverhohlen verfolgt der ungarische Ministerpräsident weiterhin das Ziel, die eigene Macht gesetzlich zu zementieren und politische Alternativen zu verhindern. Jüngstes Beispiel dafür ist die Einführung einer verpflichtenden Wählerregistrierung, die allerdings das ungarische Verfassungsgericht vorerst stoppte. Eine Registrierungspflicht bis 15 Tage vor dem Wahltermin hätte vor allem Spontanwähler sowie Bürgerinnen und Bürger ohne deutliche parteipolitische Präferenzen von der Wahl ferngehalten – und damit das Orbán-Lager begünstigt. Doch das Urteil des Verfassungsgerichts ficht die Regierung nicht an: Anstatt sich geschlagen zu geben, bereitet sie derzeit ein Gesetz vor, das die herrschende verfassungsrechtliche Rechtspraxis aushebeln und es dem Gericht fortan untersagen soll, seiner Urteilsfindung die eigene Rechtsprechung der letzten 22 Jahre zugrunde zu legen.[4]

Mit derlei „Reformen“ bringt sich Orbáns Partei Fidesz bereits für die nächste Parlamentswahl im Frühjahr 2014 in Stellung. Der Opposition, den Minderheiten im Land und den europäischen Institutionen muss Orbáns Ankündigung, die Ernte einzufahren, dagegen wie eine Drohung erscheinen. Tatsächlich spricht die ungarische Öffentlichkeit mit Blick auf den Urnengang in einem Jahr bereits von einer „Schicksalswahl“.

Der kurze Atem der EU

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist vor allem dem kurzen Atem der EU geschuldet. Zwar sah es zunächst so aus, als würde Brüssel mit seinem Vorgehen Erfolg haben und Budapest weitreichende Zugeständnisse abringen. Im Gegensatz zur offensiven Ausgrenzungsstrategie gegenüber der österreichischen Regierung unter FPÖ-Beteiligung im Jahr 2000 setzen Kommission und Europäischer Rat dieses Mal verstärkt auf ein eher zurückhaltendes Vorgehen: Die Gesetzesänderungen in Ungarn werden als rein formale Verstöße gegen EU-Recht behandelt, eine politische Wertung – wie sie das Europäische Parlament vorgenommen hat – findet nicht statt. Deshalb hat die Union die antidemokratischen Reformen der ungarischen Regierung auch nur verzögern und lediglich in Teilen aufhalten können.[5]

So nahm die Orbán-Regierung während der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2011 unter anderem die Registrierungspflicht von Journalisten zurück. Infolge eines Verfassungsgerichtsurteils vom Juli 2012 entschärfte sie zudem die medienrechtlichen Bestimmungen hinsichtlich des Informantenschutzes, die Medien zwingen sollten, ihre Quellen auf behördliches Verlangen hin offenzulegen. Zugleich verringerte sie die inhaltliche Kontrolle der Printmedien durch die ungarische Medienaufsichtsbehörde NMHH.

Dennoch verloren aufgrund der neuen Gesetze allein im Jahr 2011 etwa 550 Journalistinnen und Journalisten der öffentlich-rechtlichen Sender ihre Anstellung, 36 Medien wurden mit rund 70 Sanktionen belegt und Bußgelder in Höhe von umgerechnet 1,4 Mio. Euro verhängt.[6]

Auch hinsichtlich der Unabhängigkeit der Notenbank schien die Orbán-Regierung der EU anfangs entgegen zu kommen. Allerdings gibt der Chef der Nationalbank, András Simor, im März dieses Jahres turnusgemäß seinen Posten ab. Simor gilt als scharfer Kritiker der „unorthodoxen“ Wirtschaftspolitik des Fidesz. Sein Nachfolger könnte nun der derzeitige Wirtschaftsminister György Matolcsy werden. Mit ihm aber würde künftig ein enger Gefolgsmann Orbáns die Politik der Notenbank bestimmen – und damit genau jene geldpolitische Abhängigkeit von der Regierung herstellen, die EU-Währungskommissar Olli Rehn unbedingt verhindern wollte.

Selbst das umstrittene Gesetz zur vorzeitigen Pensionierung von Richtern hat sich am Ende für Orbán ausgezahlt. Mit ihm will die ungarische Regierung die Judikative unter ihre Kontrolle bringen. Zwar hat der Europäische Gerichtshof im November 2012 auf eine Klage der EU-Kommission hin bestätigt, dass das Gesetz gegen das Diskriminierungsverbot der EU-Grundrechtecharta verstößt, aber das Urteil kam zu spät: Allein im vergangenen Jahr wurden über 230 Richter – und damit etwa zehn Prozent der ungarischen Richterschaft – altersbedingt entlassen und durch neue, Orbán genehme Richter und Staatsanwälte ersetzt.

Hinzu kommt, dass die gewaltigen Umwälzungen im Bildungs- und Kulturbereich weitgehend unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit stattfinden. So verstoßen die Sonderklassen für Roma-Kinder in Schulen eindeutig gegen geltendes EU-Recht und die Grundrechtecharta. In neuen Lehrplänen tauchen zudem rechtsextreme Dichter wie Jozsef Nyirö aus der Zeit des faschistischen Regimes auf. Und auch der wiedererwachte Kult um den ehemaligen Reichsverweser und Hitler-Verbündeten Miklós Horthy – nach dem einige Gemeinden sogar zentrale Plätze benennen wollen – steht ganz im Zeichen des Revisionismus und einer Politik der Re-Nationalisierung.

Zähneknirschend hat die Regierung auf die bisherigen Beanstandungen der EU reagiert. Bei aller Kritik an den „Einmischungen“ von Außen, werden die Verfahren in Ungarn jedoch als relevantes, externes Korrektiv akzeptiert und von den Orbán-Gegnern begrüßt. Denn anders als gegenüber der eigenen Opposition kann die Orbán-Regierung die Kritik aus Brüssel nicht einfach ignorieren. Zudem haben die Verfahren die Konflikte im Land internationalisiert. Die Verfahren und die damit verbundene Aufmerksamkeit erschweren und verzögern den Demokratieabbau und die Aushöhlung des Rechtsstaats. Sie schaffen gleichzeitig innenpolitisch einen Resonanzraum, an den die Opposition anknüpfen kann.

Die ungarischen Zivilgesellschaft erfindet sich neu

Die Maßnahmen der Regierung wollen immer weniger Ungarn lautlos hinnehmen: So ist es der ungarischen Zivilgesellschaft in den letzten zwei Jahren gelungen, sich neu zu erfinden. Die Schockstarre nach dem Rechtsruck von 2010 ist dabei einem neuen Selbstbewusstsein gewichen; auf den Straßen und Plätzen des Landes ist es geradezu zu einer Renaissance des Politischen gekommen, die weit über die klassischen Milieus der kritischen Intellektuellen hinausreicht.

Den Soundtrack der neuen Protestbewegung liefert die Soziologin und Rapperin Dorottaya Karsay. Ihr Stück „Nem Tetszik a Rendszer“ – „Ich mag das System nicht“ – avancierte zum YouTube-Hit und wurde schon über eine Million Mal angeklickt. Wenn es stimmt, dass Popkultur immer auch ein Seismograph gesellschaftspolitischer Veränderung ist, steht dem Zehn-Millionen-Land also einiges bevor.

Der Erfolg der Proteste wird jedoch maßgeblich davon abhängen, ob die unterschiedlichen Oppositionskräfte ihre Differenzen überwinden und Einigkeit herstellen können, um Fidesz bei der nächsten Wahl geeint herauszufordern. Zwar liegt Orbán in der Wählergunst nach wie vor an erster Stelle. Doch hat seine rechtskonservative Regierungskoalition aus Fidesz und der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP) laut Umfragen bereits deutlich an Zustimmung eingebüßt und ihre Zweidrittelmehrheit verloren.

„Gemeinsam 2014“: Von der Straße ins Parlament

Die wachsende Repolitisierung im Land hat im Oktober 2012 zur Formierung des neuen Oppositionsbündnisses „Gemeinsam 2014“ („Együtt 2014“) geführt, das bei seiner öffentlichen Konstituierung rund 80 000 Menschen auf die Straße brachte. Das Bündnis hat sich vor allem der Wiederherstellung rechtsstaatlicher Prinzipien und eines demokratischen Kontrollsystems verschrieben.

„Gemeinsam 2014“ gehören unter anderem Orbáns Vorgänger, der ehemalige parteilose Ministerpräsident Gordon Bajnai, und dessen wirtschafts-politischer Think Thank „Heimat und Fortschritt“ („Haza es Haladas“) an. Bajnai verzichtet bewusst auf populistische Rhetorik und versucht stattdessen, sich als gemäßigter Vertreter der Mitte und des Mittelstandes zu präsentieren.

Auch die zivilgesellschaftliche Organisation „Milla“ ist Teil des Bündnisses. Sie ist aus der Facebook-Gruppe „Eine Million für die Pressefreiheit“ hervorgegangen, die sich aus Protest gegen das neue Mediengesetz konstituiert hatte und vor allem junge Menschen anspricht. Ebenfalls angeschlossen ist das gewerkschaftliche Aktionsbündnis „Solidarität“ („Szolidaritas“). Dessen Forderungen konzentrieren sich auf Arbeitsmarktreformen und den Ausbau des Sozialstaats.

Und auch der Widerstand der Studierenden ist ein wichtiger Teil der oppositionellen Proteste. Besonders die exorbitante Erhöhung der Studiengebühren hat in zahlreichen Städten zu Streiks, Demonstrationen und Universitätsbesetzungen geführt. Das „Netzwerk der Studenten“ („Hallgatói Hálózat”) protestiert zudem gegen die im Rahmen der neuen Hochschulgesetze geplanten „Bleibepflicht“ für Studenten: Nach den Plänen der Regierung sollen sich Erstsemester bestimmter Fächer vor Beginn des Studiums vertraglich verpflichten müssen, nach dem Examen für mehrere Jahre in Ungarn zu bleiben.

Auf der Suche nach politischen Bündnispartnern

„Gemeinsam 2014“ hat auf diese Weise eine große Zahl Politikverdrossener mobilisiert, was die etablierten Parteien aufmerksam beobachten – zumal das Bündnis derzeit plant, sich als Partei zu konstituieren und bei der kommenden Parlamentswahl anzutreten. Laut Umfragen könnte es aus dem Stand bis zu 20 Prozent der Stimmen erhalten. Und schon jetzt lotet es mögliche Wahlbündnisse mit der parlamentarischen Opposition aus.

Als erstes hat die sozialdemokratische Magyar Szocialista Párt (MSZP) ihr Interesse an einer gemeinsamen Liste bekundet. Laut Umfragen hat die MSZP in jüngster Zeit ebenfalls erheblich an Zuspruch gewonnen: sie liegt derzeit bei rund 33 Prozent der Wählerstimmen – 12 Prozent mehr als 2010. Für Zündstoff sorgt allerdings Mesterházys Anspruch auf die Führungsposition im Anti-Orbán-Bündnis.

„Gemeinsam 2014“ ebenfalls beitreten möchte die Demokratische Koalition (DK), eine MSZP-Abspaltung des ehemaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány. Allerdings spielt sie mit potentiell drei Prozent der Wählerstimmen in der ungarischen Politik nur eine untergeordnete Rolle. Sie würde zudem dem Wahlbündnis jede Glaubwürdigkeit nehmen: Als Ministerpräsident hatte Gyurcsány die ungarische Bevölkerung jahrelang belogen, um Akzeptanz für seine neoliberalen Reformen zu erreichen. Nachdem der Betrug 2006 öffentlich wurde, zwangen ihn wütende Proteste schließlich zum Rücktritt.

Die dritte Partei, die Ökopartei Lehet Más a Politika (LMP), hat sich nach internen Richtungskämpfen im Streit um einen Beitritt zu „Gemeinsam 2014“ gespalten. Durchgesetzt hat sich der Flügel um den ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Andras Schiffer, der jedoch weder mit der MSZP noch mit „Gemeinsam 2014“ koalieren will.

Stattdessen verfolgt Schiffer bereits seit längerem das Ziel, mit Orbán zusammenzuarbeiten. Allerdings könnte die Spaltung der Partei den Fraktionsstatus kosten, in Umfragen liegt sie derzeit bei nur rund fünf Prozent. Die Öko-Partei droht damit in die politische Bedeutungslosigkeit abzugleiten.

Daher wird sich das Bündnis „Gemeinsam 2014“ auf ein Kernbündnis aus Mesterházy und Bajnai beschränken müssen. Ob die neue Koalition damit auch stark genug sein wird, um Orbán erfolgreich die Stirn zu bieten, ist derzeit allerdings noch völlig offen. Fest steht dagegen eins: Die EU darf bis zu der Wahl die Hände nicht in den Schoß legen. Stattdessen sollte sie den Druck auf die Regierung Orbán wieder erhöhen. Das nämlich würde nicht nur Rückenwind für die neue ungarische Opposition bedeuten, sondern auch für die ungarische Demokratie als solche.

 


* Für Hinweise und Anregungen bedanken wir uns bei Agnes Heller, György Dalos, Gregor Mayer und Magdalena Marsovszky.

[1] Vgl. Dániel Féher, Orbáns Durchmarsch, in: „Blätter“, 2/2011, S. 9-12 und ders., Viktor Orbáns Politik der Entrechtung, in: „Blätter“, 1/2012, S. 21-23.

[2] Vgl. Keno Verseck, Rechtsruck in Ungarn, „Deutsche Welle“, 30.01.2013, www.dw.de.

[3] Vgl. Laudatio aus dem Kartenhaus, in: „Pester Lloyd“, 25.8.2012.

[4] Vgl. Gábor Halmai, Ungarns Verfassungsgericht: Das Imperium schlägt zurück,www.verfassungsblog.de, 4.2.2013.

[5] Das Verfahren um die Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten ist derzeit noch anhängig.

[6] Vgl. Andreas Koob, Holger Marcks und Magdalena Marsovszky, Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn, Münster 2013, S. 97.

(aus: »Blätter« 3/2013, Seite 29-32)

>> blaetter.de

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