Von WZ-Korrespondentin Kathrin Lauer
- Jürgen Habermas kritisiert in Budapest die Orbán-Regierung, aber auch die EU. Das Publikum hört andächtig zu – dabei hätte sich der Philosoph eine lebhafte Debatte gewünscht. Und das verrät viel über die Diskussionskultur in Ungarn.
Budapest. Der Vortrag ist beendet, nun soll die Diskussion beginnen. Doch ist das Publikum im Hörsaal der Budapester Eötvös-Lóránt-Universität erst einmal erstarrt, keiner meldet sich zu Wort. Da springt der hochgewachsene, agile Redner noch einmal zum Pult mit dem Mikrofon: “Helfen Sie mir, kritisieren Sie mich, widersprechen Sie mir. Mit meinen 84 Jahren bin ich alles gewöhnt”, fleht Jürgen Habermas. Der Guru der 68er-Generation, einer der bedeutendsten noch lebenden Philosophen der Welt, hatte sich wohl mehr Spaß versprochen, das heißt: kontroverse Diskussionen in der Heimat des Marxisten György Lukács (1885-1971), einem der Vordenker der Frankfurter Schule, die Habermas mitgeprägt hat.
Zwar standen an diesem trüben Tag Ende Mai die Menschen stundenlang Schlange, um einen Platz bei Habermas’ Vortrag über “Europa, Ungarn und das Projekt einer transnationalen Demokratie” zu ergattern – ein überwältigendes Interesse, das auch die Veranstalter, das Goethe-Institut und die Budapester Vertretung der EU-Kommission, überraschte. Ein zweiter Saal wurde organisiert, in dem nochmal mehrere hundert Zuhörer die Rede des Philosophen über einen Video-Bildschirm verfolgen konnten.
Doch das Publikum war nicht in kritischer Stimmung gekommen, sondern wie eine Schar von Jüngern zum Propheten. Die Zuhörer suchten bei Habermas offensichtlich vor allem Trost und Ermutigung angesichts der immer bleierner werdenden Herrschaft der Rechtsnationalen unter Viktor Orbán, die seit 2010 Ungarns einst starke links-liberale Kulturtradition in eine lähmende Defensive drängt.
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