“Die Ungarn lieben nicht einmal sich selbst”

Der Philosoph und ehemalige Dissident Gáspár Miklós Tamás über eine neue Herrscherklasse in Ungarn und die Entstehung einer neuen Linken auf dem Balkan

daStandard.at: Früher sagten Sie, dass der “Antiorbanismus” eine Religion sei. Was sagen Sie zum “Orbanismus”?

Tamás: Er ist ein politischer Kult, der im Zusammenhang mit vielen Diktatoren entstanden ist. Zum letzten Mal gab es in Westeuropa kurzfristig um Charles de Gaulle einen solchen Kult. Das System des Viktor Orbán würde ohne ihn nicht funktionieren. Orbán ist ein sehr begabter Mensch. Seit 2010 machte er etwas anderes als früher. Davor war er auch kein großer Demokrat, aber seit 2010 baut er ein Einparteiensystem auf. Langsam ist er draufgekommen, was er so richtig tun möchte. In kultureller Hinsicht ist das Regime eine seltsame Kombination. Es gibt einen ungeheuren Hass auf die Hochkultur, solche Symbole wie Fußball und Pferdestatuen sind kein Zufall, im Gegensatz zu Philosophie, Film und Theater. Die gesamte moderne ungarische Kultur stuft er als fremd ein, die gesamte konventionelle patriotische Kultur ist das Ideal. Das Orbán-System ist gegen die gesamte ungarische Intelligenz, inklusive der weniger zahlreichen Intelligenz des rechten Lagers.

daStandard.at: Wie kann man dieses Regime bekämpfen?

Tamás: Mit der jetzigen Opposition keinesfalls. Die wirkliche Frage lautet aber nicht, wie, sondern mit wem. Gegen dieses Regime brauchen wir eine radikalere Linke. Ich glaube, es ist unvermeidbar, dass ein entschiedenes sozialdemokratisches und grünes Konglomerat aus denjenigen entsteht, die heute nicht im politischen Zentrum stehen. Wir brauchen eine klare, egalitäre Politik, die die riesige soziale Ungerechtigkeit beseitigt, die für das Land kennzeichnend ist. Schlagen die Demokraten keine Veränderung vor, dann werden das die Faschisten tun. Es gibt kein Vakuum in der Politik. Es ist nicht so, dass sich hier keiner bewegen wird. Die Faschisten sind da, sie sind jung und glauben an ihre Ideen, so gruselig sie auch sind. Ich würde sie nicht unterschätzen. Ungarn hat Riesenglück, dass der Jobbik-Führer Gábor Vona ein schlechter und untalentierter Leader ist, der Gott sei Dank niemanden begeistert. In Ungarn könnte heute ein talentierter junger faschistischer Führer viel erreichen.

daStandard.at: Wie sehen Sie Ungarns Zukunft in den kommenden zehn Jahren?

Tamás: Hier wächst eine Generation heran, die dieser ganzen konventionellen Politik den Rücken kehrt. Nicht aber, weil sie nicht politisiert, sondern weil sie intelligenter und subversiver politisiert, und die Konsequenzen aus der Krise der Marktwirtschaft und des Parlamentarismus zieht und neue Wege sucht. Die Krise der Opposition wird positiven Folgen haben. Mit einem kleinen Glück wird sie neuen Bewegungen im linken Lager ins Leben rufen.

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