Die Sprache ist zu einem Instrument des Monologisierens verkümmert, nicht erstaunlich in einem Land, in dem der Ministerpräsident Viktor Orbán mit besorgniserregenden Fähigkeiten jede Katastrophe, vor allem auf internationalem Gebiet, als nationalen Erfolg verkauft. Seine demagogischen Fähigkeiten sind herausragend, daher ist das Ende seiner Herrschaft in keiner Weise absehbar. Er steuert den ungarischen Staat wie einen gutgelaunten Ausflugsdampfer geradewegs auf das drohende Felsenriff zu und verspricht dabei unter dem Applaus begeisterter und gutgläubiger Touristen die reinste Erholung, wundervolles Panorama und garantiertes Glück für alle und jeden.
Doch der Ministerpräsident ist mit diesem Monolog-reduzierten Sprachtalent leider absolut nicht allein. Alle Ungarn sind davon befallen, viele aktiv, jeder aber passiv. Auch die Opposition spricht nur mit sich selbst und hatte in den letzten fünfundzwanzig Jahren in wechselnden Machtkonstellationen immer wieder Gelegenheit, in Dialogform zu regieren und verantwortungsvoll zu handeln. Regelmässig aber bereicherte sich die gerade an der Macht befindliche Herrschaftselite und verwandelte die öffentlichen Angelegenheiten in private Jagdgründe. Viele Skandale wurden aufgedeckt, die meisten und schlimmsten liegen unaufgeklärt im Dunkel der Keller, es ist Verlass auf die Verschwiegenheit der Verschworenen.
Sprache, ein Ort für Wahrheit wie für Täuschung. – László Moholy-Nagy: «Typocollage», 1922
Der Kult der Sprache
Die Sprache der Dichtung lügt nicht. Hat sie Qualität, dann kommt Wahrheit zu Wort, ganze Wahrheit. Das ist ein mutiger, ein quälerischer Akt. Ungarn ist eine kleine, aus dem asiatischen Ural nach Europa versprengte Nation, die sich immer wieder leidenschaftlich an ihre exotische Sprache geklammert hat, um in der stets sich wandelnden, neuen Fremde bestehen zu können. Auch dieses über Jahrtausende verschleppte Trauma gilt es zu berücksichtigen, wenn man die Kapriolen des ungarischen Staates im Vereinten Europa verstehen oder gar therapieren möchte. Herder sagte 1784 in seinen «Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit» den Magyaren gerade wegen ihrer skurrilen Sprache ein vergleichsweise schnelles Ende voraus, umzingelt von den viel grösseren germanischen und slawischen Mächten. Die Ungarn aber haben sich geradezu gegen Herder verbündet und im Kult ihrer Sprache Überlebensfähigkeit praktiziert und bewiesen.
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