Ungarns Kulturpolitik verursacht eine ideologische Gängelung der Institutionen

Eine kulturelle Selbstzerstörung
Von Kathrin Lauer

Rechtsnationale Regierung von Viktor Orbán empört Künstler und Verleger.

Das Haus hat vier Fenster, hinter jedem wohnt jemand anderer: ein junger Roma, ein alter Bauer, eine biedere Hausfrau und ein feister Yuppie – lauter ungarische Durchschnittstypen. Alle vier schieben vorsichtig einen Vorhang beiseite und schauen teilnahmslos hinaus. Dann prasseln Wurfgeschosse auf die Fensterscheiben, dazu hört man das Klirren von brechendem Glas. Die Geschosse kommen aus dem Inneren des Hauses, von unsichtbarer Hand. Die Bewohner reagieren nicht.
Ungarn verletzt sich selbst und tut so, als wäre nichts gewesen – so sieht es wohl der Künstler Imre Bukta, Schöpfer dieser Videoinstallation in der Budapester Kunsthalle (Mücsarnok). “Das andere Ungarn” heißt seine Schau – es dürfte die letzte an diesem Ort sein, die sich kritisch mit ungarischen Befindlichkeiten auseinandersetzt. Denn der Mücsarnok soll nach dem Willen der rechtsnationalen Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán der reaktionären Akademie der Künste (MMA) unterstellt werden. Deren Vorsitzender György Fekete hat sich jüngst mit antisemitischen Sprüchen hervorgetan. Imre Kertész und György Konrád würden im Ausland irrtümlich für Ungarn gehalten, sagte er. In der antisemitischen Code-Sprache, die in Ungarn jeder beherrscht, heißt dies: Die beiden Schriftsteller können nicht zur ungarischen Nation gehören, weil sie Juden sind.

Etliche Baustellen in der Kulturpolitik Ungarns
Schon die frühere Mücsarnok-Ausstellung “Was ist Ungarisch?” hatte Fekete als “nationale Blasphemie” angeprangert. Der Mücsarnok-Direktor Gábor Gulyás – ursprünglich kein Gegner der Orbán-Regierung – war schon Ende November nach dem Kabinettsbeschluss zur Umwidmung der Halle zurückgetreten, weil er, wie er sagte, unter Feketes Regiment keine Möglichkeit sieht, weiter unabhängig zu arbeiten.

Der Fall Mücsarnok ist nur einer von vielen Bausteinen der Kulturpolitik im Ungeist der 2011 von Orbán durchgesetzten reaktionären Verfassung, die den Ungarn als nationalistischen Christen definiert. Dabei hat Ungarn gar kein Kulturministerium – das Ressort ist dem Ministerium für Humanressourcen unterstellt, das auch für Unterricht und Soziales zuständig ist.

Kurswechsel beim Nationaltheater
Rechte bis Rechtsradikale dringen in immer mehr Posten vor. An der Spitze des kleinen Budapester Neuen Theaters sitzt bereits seit Ende 2011 der rechtsradikalen György Dörner. Jetzt droht auch beim Nationaltheater ein Kurswechsel. Dort wurde der liberale Schauspieler und Regisseur Robert Alföldi als Intendant abgesetzt. Alföldi war immer wieder von Ungarns Rechtsextremen angegriffen worden, weil er sich dem nationalistischen Kanon nicht beugt, einen modernen Stil pflegt und sich zu seiner Homosexualität bekennt. Zu seinem Nachfolger wurde der konservative Attila Vidnyánszky ernannt. Er stammt aus der benachbarten Ukraine, lebt aber seit der Jahrtausendwende in Ungarn. Die Aufwertung der Magyaren aus früher zu Ungarn gehörenden Territorien der Nachbarländer ist traditionelles Ziel von Ungarns Rechten.

Empörung herrscht auch in der Verlegerszene, weil Orban über das Programm “Bibliothek der Nation” ungarische Literatur herausgeben will, die zum größten Teil bereits auf dem freien Markt erschienen ist. Orban setzte dazu einen Sonderkommissar ein, dem für dieses Projekt Staatsmittel zugewiesen wurden, die das Anderthalbfache aller übrigen für die Buchproduktion vorgesehenen Subventionen ausmachen. “Manchmal wünsche ich mir die türkische Kolonialherrschaft zurück, denn die Türken waren tolerantere Invasoren als die heutigen ungarischen Politiker”, sagte dazu ein junger Budapester Schriftsteller der “Wiener Zeitung”. Er will seinen Namen nicht gedruckt sehen, um seinen Arbeitgebern nicht zu schaden.
Orbáns Partei Fidesz hat mit ihrer parlamentarischen Zweidrittel-Mehrheit die Macht, alle Pro-jekte durchzuwinken – darunter auch die ideologische Gängelung der Budapester Kunsthalle. Aber selbst in Fidesz-Kreisen mehrt sich der Unmut. Orbáns einstiger Kulturminister Zoltan Rockenbauer (2000-2002) erklärte sich mit dem Mücsarnok-Direktor Gulyas solidarisch. Reihenweise treten derzeit Mitglieder von Feketes Akademie der Künste aus – einem ursprünglich privaten Verein erzkonservativer Künstler, der von der Regierung zum halbamtlichen Gremium aufgewertet wurde.

Auch scheinen die von Orbán kontrollierten Staatsmedien vor Autoritäten wie dem Schriftsteller Peter Esterházy einen – wenn auch sehr winzigen – Rest von Respekt bewahrt zu haben. Esterházy hatte in einem Radio-Interview den Besuch des Nationaltheaters empfohlen – ausdrücklich, um dessen letzte Monate unter der Führung des scheidenden Alföldi nicht zu verpassen. Ein Redakteur des Staatsrundfunks hatte diesen Satz aus dem Interview herausgeschnitten. Nachdem Es-terhazy dies publik gemacht hatte, bat ihn der Rundfunk um Entschuldigung, leugnete aber, dass Zensur im Spiel gewesen sei.

>> wienerzeitung.at

 

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