Ungarn bemüht sich, in den Namen von Institutionen, Plätzen und Strassen «Altlasten» aus der Zeit des Kommunismus loszuwerden. Darüber, dass keine Willkür waltet, wacht eine Historikerkommission.
György Dalos
Der Staatssekretär und Vizepräsident der mit Orbáns Fidesz in Koalition befindlichen Christlich-Demokratischen Volkspartei, Bence Rétvári, forderte Mitte Januar die Leitung der Budapester Corvinus-Universität auf, die Sitzstatue von Karl Marx aus der Aula zu entfernen. Diese Massnahme sei «25 Jahre nach dem Systemwechsel» längst fällig, denn «Marxens Ideen, besonders deren Nachleben, hätten das Bett für die unmenschlichen Diktaturen und Genozide des 20. Jahrhunderts gemacht». Um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen, zitierte Rétvári einige wohlbekannte, in der Tat ziemlich unangenehme Passagen aus den frühen Arbeiten von Marx gegen Slawen und Juden und bezeichnete ihn daraufhin als «offenen Rassisten».
Die Konfrontation markiert den vorläufigen Höhepunkt einer Kampagne, deren ausgesprochenes Ziel in der Eliminierung der Namen von Strassen, Institutionen, Medien und selbst Privatfirmen liegt, welche – so das im November 2012 vom Parlament angenommene Gesetz CLXVII – «mit den politischen Willkürsystemen des 20. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden könnten». Obwohl das Gesetz keine konkreten Beispiele auflistete, war klar, dass es sich um kommunistische oder an die Zeiten des «realen Sozialismus» erinnernde Strassennamen handelte. In der Tat blieben nach der ersten Welle der Namensänderungen von anno 1990 ungefähr 50 Lenin-Strassen oder -Plätze sowie einige Strassen der Räterepublik und der Roten Armee übrig, wobei allein in der Hauptstadt mehr als 1200 Namenserneuerungen vorgenommen wurden. Was die politisch relevanten Denkmäler der Ära Kádár betraf, regelte man deren Schicksal ganz im Sinne des friedlichen Regimewechsels: Viele von ihnen landeten im stadtnahen Mementopark, so auch das kubistische Standbild von Marx und Engels, das ursprünglich vor dem Sitz des Zentralkomitees aufgestellt worden war.
Wohin mit der ungeliebten Geschichte? Die vielen überflüssigen Denkmäler finden immerhin im Budapester Memento-Park eine letzte Ruhestätte. (Bild: James Hill / laif)
Kontrollierter Prozess
Seit dem Wahlsieg der nationalkonservativen Kräfte im Frühjahr 2010 erhielt der Kampf um die Vergangenheit eine neue Dimension. Auf der einen Seite entstanden allerlei Kunstwerke, Gedenktafeln und Strassennamen, welche das Wertesystem der Vorkriegszeit verkörpern sollten. Obwohl in den westlichen Medien in diesem Kontext der Name Horthy am häufigsten erwähnt wird, besitzt der Reichsverweser nur insgesamt vier Statuen. Der eigentliche Gewinner der Eroberung des symbolischen Raums ist der rechtslastige, in Rumänien als Kriegsverbrecher verurteilte, 1995 verstorbene Exilautor Albert Wass von Czege, dem seine Fans bis Ende 2012 34 Denkmäler erbauen liessen – manche davon auf dem nach ihm benannten Platz vor dem Kulturhaus, das seinen Namen trägt. Der andere Meistbegünstigte war der militant antisemitische Bischof der Zwischenkriegszeit, Ottokár Prohászka, an den allein in Székesfehérvár neun Strassen bzw. Denkmäler erinnern.
Das Gesetz über Namen und andere Bezeichnungen entstand in der Absicht, den Prozess der Neutaufe unter Kontrolle zu halten. Einige willkürliche Namensänderungen vor allem in Budapest lösten nämlich offenen Protest aus: so die Entscheidung der Stadtabgeordnetenversammlung für die Entfernung der Strassenschilder mit den Namen von Tersánszky und Gelléri, zwei modernen Klassikern der ungarischen Literatur – der eine wurde durch einen unlängst verstorbenen Geistlichen, der andere durch einen Oberregierungsrat der k. u. k Monarchie ersetzt. Vor allem Historiker protestierten gegen die geplante Abschaffung der Leo-Frankel-Strasse im 2. Bezirk. Der Namensgeber war ein Frühsozialist und Minister der Pariser Kommune, dessen Gedächtnis in Paris eine Rue de Leon Frankel bewahrt.
Nun beauftragte die Regierung eine Historikerkommission der Akademie, den ratlosen Gemeinden bei den schwierigen Entscheidungen zu helfen. Das von dieser erarbeitete, rund 130 Beispiele auflistende Gutachten teilte die fraglichen Bezeichnungen in drei Kategorien ein: in «nicht empfohlen», «benutzbar» und «benutzbar, aber bedenklich». Zur ersten Gruppe gehörten politisch besetzte Begriffe wie «Befreiung» (1945), «Jungarbeiter», «Volksfront» «Rat» (Anlehnung an das Wort «Sowjet»), «Pionier», «Partisan», «Volksarmee» – diese seien weder als Plätze- noch als Strassen- oder Wege-Namen zu verantworten.
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